Ullis Kaiserreich
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Gartenarbeit

Das Telefon klingelte. Verschlafen blickte ich auf den Wecker. Wer ruft Samstagmorgen um 8.30 Uhr an ging es mir durch den Kopf, als ich ans Telefon hechtete.

„Guten Morgen“, schallte es aus dem Hörer, „ich wollte euch noch erwischen, bevor ihr losfahrt.“ Es war die Schwiegermutter. „Wir haben alle noch geschlafen“ antwortete ich kurz. „Ach, ich dachte, ihr wolltet mittags hier sein, ich habe eine dänische Kartoffelsuppe vorbereitet.“ „Wenn wir aufgestanden sind, werden wir erst einmal frühstücken, dann das Auto beladen und dann werden kommen. Wann wir ankommen ist jedoch noch unklar, denn man weiß ja nie, was auf der Autobahn los ist. Bis dann.“ Ich hängte auf und kroch ins warme Bett zurück. Meine Frau und unsere Tochter waren durch das Klingeln des Telefons auch aufgewacht.

„Wer war es denn?“ „Na wer wohl, deine Mutter, die wissen wollte, ob wir schon weg sind.“

Für das Wochenende hatten wir der Schwiegermutter einen Besuch versprochen, um den Garten zu machen. Der Rasen sollte gemäht, die Hecke geschnitten, der Wein am Haus gestutzt und vier Büsche gepflanzt werden.

Wir blieben noch ein wenig im Bett liegen, konnten allerdings nicht mehr einschlafen. So standen wir auf, machten uns fertig und frühstückten. Nach dem Frühstück verstauten wir unser Reisegepäck und die besorgten Gehölze im Kofferraum unseres Kombis. „Ich rufe mal an, dass wir jetzt losfahren“, sagte meine bessere Hälfte. Das Telefonat verfolgte ich an der Tür wartend. „Nein, wir hatten nicht 10.00 Uhr gesagt“, rechtfertigte sich meine Frau, „aber jetzt fahren wir los.“ Sie legte genervt den Hörer in die Gabel.

Nach einer Stunde und etwa 100 Kilometern auf der Autobahn, was gut der Hälfte der zu fahrenden Strecke entsprach, klingelte das Handy. Meine Frau nahm das Gespräch an. Es folgte ein kurzer Austausch über unsere Position und der Hinweis, dass wir in etwa einer Stunde ankommen würden. Nachdem das Telefonat beendet war, sagte meine Frau, die Schwiegermutter habe angerufen um zu wissen, wann sie die Kartoffelsuppe aufsetzen solle. Mmmmh, wie lecker, schoss es mir durch den Kopf, die Kochkünste unserer Gastgeberin kennend.

Nach einer weiteren Stunde Fahrt erreichten wir die kleine Kreisstadt und wurden mit einem „Seid ihr denn endlich da?“ begrüßt. „Die Kartoffelsuppe ist nun schon wieder kalt.“ Die Suppe wurde zum wiederholten Mal erwärmt und wir nahmen im Wintergarten des Hauses Platz, um zu essen. Die Suppe war eigentlich nichts besonderes. Dieser Auffassung war die Schwiegermutter jedoch nicht. „Diese dänische Kartoffelsuppe ist so gut, ich schreibe euch gerne das Rezept auf.“ „Jaja“, antworteten wir, um des lieben Frieden willens.

Nachdem der letzte Rest Suppe verspeist war, sagte unsere Gastgeberin, dass wir nun gemeinsam den Tisch abräumen und das Geschirr abwaschen würden. Dabei verteilte sie die Aufgaben, wer was in die Küche zu tragen habe. Dies wirkte bei vier Tellern, Löffeln und einem Topf schon ein wenig komisch. Noch komischer wurde es dann, als sich alle in der kleinen Küche, ausgestattet mit einem Geschirrtuch gegenseitig auf den Füßen standen, um den eigenen Teller abzutrocknen. Aber die Hauptsache war wohl, das bloß niemand auf Kosten der anderen sich dem Nichtstun hingab.

Nun waren die Betten herzurichten und es entbrannte wieder die übliche Diskussion, wer wo in der kommenden Nacht zu schlafen habe. Unsere Tochter wollte partout bei uns im Gästezimmer schlafen, wo wir üblicherweise ein Matratzenlager herrichteten. Grund war auch, dass sie dort nicht so einfach geweckt und mit Aufgaben beauftragt werden konnte. Die Schwiegermutter hingegen wollte, dass unsere Tochter bei ihr im Zimmer mit schlafen sollte. Wir setzen uns durch, unsere Gastgeberin war für ein paar Minuten beleidigt und brummelte etwas wie „ihr haltet das Kind unselbständig, ich bin doch die Omi“ und, und, und...

Nachdem nun die Fronten abgeklärt waren, ging es an die von uns versprochene Gartenarbeit. Der Rasen war schnell gemäht und die Büsche gesetzt. Während meine Frau die Hecke vor dem Haus schnitt, erklomm ich die lange Leiter, um nach den Anweisungen der Schwiegermutter den am Haus emporwachsenden Wein zu stutzen. Als ich mich gerade wieder mit der flachen Hand an der Hauswand abstützen wollte, spürte ich einen brennenden Schmerz im Handballen. Ich hatte einen, wahrscheinlich vor Jahrzehnten in die Wand gehauenen und nun bis auf einen kleinen Stumpf weggerosteten Nagel übersehen. Der rostige Stift hinterließ ein kleines Loch in der Handfläche, aus dem es zu bluten begann. Ich stieg die Leiter hinab und schilderte mein Missgeschick.

„Das müssen wir desinfizieren, da ist noch Rost in der Wunde“, sagte meine Frau besorgt. „Ja, ich habe mich neulich auch bei der Gartenarbeit mit dem Messer geschnitten“, entgegnete die Schwiegermutter, „das war noch viel schlimmer. Das war ein richtig tiefer Schnitt mit Erde drin und ...“ „Vielleicht kannst Du sagen, wo Pflaster und Desinfektionsmittel sind!“ unterbracht meine Frau wütend den Bericht. „Na, so schlimm wird es schon nicht sein“ erwiderte die Schwiegermutter, verriet dann aber, wo das Verbandsmaterial lagerte. Die Wunde wurde behandelt und verbunden, dann konnten die Schnittarbeiten zu Ende geführt werden und es war Zeit für Kuchen und Tee.

Alle Anwesenden wurden wiederum damit beschäftigt, das Teegeschirr in den Wintergarten zu bringen. „Soll ich einen Earl Grey kochen“, fragte die Schwiegermutter. „Mache doch lieber einen ganz einfachen schwarzen Tee, ich trinke ihn immer mit Milch“, antwortete ich.

Aus dem Wintergarten dröhnte inzwischen eine Klassik-CD, die die Schwiegermutter aufgelegt hatte. Irgendein Kleinstadtdirigent mit seinen Chor. Es galt: Wenn Musik, dann Klassik und die wurde uns nun mit entsprechender Lautstärke zu Gemüte geführt. Ich drehte die Lautstärke der aufgezwungenen Musik etwas herunter, was sofort Stirnrunzeln hervorrief.  „Das ist doch der Dietrich“, sagte die Schwiegermutter und meinte den Kleinstadtdirigenten. „Ich dachte, wenn es ein wenig leiser ist können wir uns auch unterhalten“, entgegnete ich.

Zum Tee gab es dann einen Zitronenkuchen, nach dem Rezept der Großmutter, wie die Schwiegermutter versicherte. Nun, offenbar musste das Rezept beim Backen etwas abgewandelt worden sein, denn der Kuchen war recht kompakt und hatte den oberen Rand der Kastenform nicht erreicht, dafür aber oben einen recht dunklen Teint, der mit Zuckerguss überdeckt und so mehr zu schmecken als zu sehen war. Ich goss mir etwas Milch in den Tee und nippte an der Tasse. Was für ein eigenartiger Geschmack. „Ist das doch Earl Grey?“ fragte ich. „Nein, ich habe den Ostfriesentee mit ein wenig Jasmintee gemischt,“ sagte die Schwiegermutter in einem ahnungslosen Ton. Nachdem ich den Inhalt der Teetasse in der Spüle entsorgt hatte, trank ich die nächste Tasse ohne Milch.

„Ach, reiche doch noch mal den Zitronenkuchen herum, den mögt ihr doch so gern.“ Aber das erste Stück Kuchen, von der Konsistenz wie Schwarzbrot, ließ uns das Angebot dankend ablehnen. Es folgte erneut die Prozedur des gemeinsamen Abräumens und Abwaschens – vier Personen waschen gemeinsam vier Teetassen und vier Kuchenteller ab.

„Dann machen wir jetzt noch einen kleinen Spaziergang vor dem Abendessen“, legte die Schwiegermutter fest. Es folgte die ewig gleiche Runde durch den Kurpark, entlang der Tennisplätze und dem kleinen Fluss.

Am Abend waren dann alle bei meinem Schwager, der im gleichen Ort wohnte zum Essen eingeladen. Also stiegen alle ins Auto, wobei die Schwiegermutter natürlich wegen der Rückenbeschwerden vorne sitzen musste. Der Schwager erwartete uns mit einem vorzüglichen Essen und einem leckeren Wein. Nach dem Essen saßen wir noch zusammen und erzählten. Die Schwiegermutter zeigte nun mit mehrmaligen Gähnen den Anflug von Müdigkeit und wollte heim. Glücklicherweise hatten wir einen weiteren Hausschlüssel mit, so dass für die Schwiegermutter ein Taxi gerufen werden konnte und wir noch blieben.

Als wir gegen Mitternacht das Haus der Schwiegermutter erreichten, schlichten wir uns in unserer Zimmer. Aus dem Schlafzimmer der Schwiegermutter, dessen Tür offen stand, klang sonores Schnarchen. Bevor sie jedoch ins Bett gegangen war, hatte die Schwiegermutter in unserem Zimmer noch eine Matratze so vorgezogen, dass die Gästezimmertür nicht mehr zu schließen war. Wir machten dies rückgängig, schlossen die Tür hinter uns und gingen alle drei zu Bett.

Am folgenden Morgen gegen 7.30 Uhr, es war noch leicht dämmerig, erwachten wir durch ein Klirren von Bestecken in einem Kochtopf. Die Schwiegermutter agierte in der gegenüber dem Gästezimmer liegenden Küche bei geöffneter Küchentür mit allerlei Geschirr und versuchte sich Gehör zu verschaffen. Frei nach dem Motto: Könnt ihr auch nicht mehr schlafen? Wir versuchten erst gar nicht, darauf einzugehen, lagen wir doch hinter der geschlossenen Tür. So dämmerten wir mit geschlossenen Augen, denn schließlich war ja Sonntag.

Nun klingelte das Telefon, welches auf dem Flur direkt neben dem Gästezimmer stand und unterbrach das Geklapper. „Hallo Hans, schön das ihr anruft“, dröhnte es durch die geschlossene Tür. Der Lautstärke nach zu urteilen, schien es sich um ein Ferngespräch zu handeln. „Ja, die drei sind bei mir, sie schlafen aber immer noch. Möchtest Du vielleicht die Bichi sprechen?“ Wir erwarteten, dass die Tür nun aufgerissen wurde, aber offensichtlich hatten die Verwandten ein Einsehen mit uns und wollten meine Frau nicht sprechen. So erhielten wir durch die geschlossene Tür noch allerlei Informationen über das Wetter, den Garten und Aktualitäten der Kleinstadt.

Nach dem Telefonat herrschte für wenige Minuten Ruhe, sollte die Schwiegermutter mit uns ein Einsehen haben und uns noch ein wenig ruhen lassen? Nein, denn jetzt dröhnte Volksmusik vom Hessischen Rundfunk durch die Tür. Die Wildecker Herzbuben gaben ihr Bestes und wir erkannten, dass es an diesem Sonntagmorgen wohl keine Ruhe mehr gab. Ich öffnete die Zimmertür, um zur Toilette zu gehen und stolperte fast über das Kofferradio, welches die Schwiegermutter direkt vor unserer Zimmertür aufgebaut hatte.

Auf das Öffnen unserer Tür hatte die Schwiegermutter in der Küche offensichtlich gelauert. Sie schoss an mir vorbei ins Gästezimmer, riss die Vorhänge zurück und ich hörte noch etwas wie „seit über einer Stunde warte ich nun schon mit dem Frühstück auf euch!“

Meine Frau und Tochter erkannten, dass dies das endgültige Zeichen zum Verlassen des Bettes war. Gerädert verließen auch sie ihr Lager. Nach dem Verstauen des Bettzeugs unter entsprechender Anleitung packten wir unsere Sachen zusammen und begaben uns dann in den Wintergarten zum Frühstück.

Die Schwiegermutter, die zum Frühstück keine Wurst und keinen Käse aß, hatte dies ganz einfach zur Regel für alle gemacht. So fand sich neben Honig und Marmelade nur noch eine Hefepaste aus dem Reformhaus auf dem Tisch. „Gibt es auch Wurst oder Käse?“ fragte ich. „Ja, im Kühlschrank und der Speisekammer“, erwiderte die Schwiegermutter.

Nachdem wir uns ein paar Scheiben Käse aus dem Kühlschrank geholt und ein Stück von einer langen Bauernwurst aus der Speisekammer abgeschnitten hatten, gab es dann doch noch ein ordentliches Frühstück. Im Anschluss wurde wiederum eine Menschenkette gebildet, um die Teller und Bestecke in die Küche zu befördern. Nach dem gemeinsamen Abwaschen sagte die Schwiegermutter: „So, bevor ihr fahrt machen wir noch einen kleinen Spaziergang durch den Kurpark.“ Da wir jedoch uns für den Rest des Wochenendes noch etwas regenerieren wollten entschieden wir, uns möglichst bald auf den Heimweg zu machen. „Den Spaziergang machen wir dann das nächste Mal“, versprachen wir der Schwiegermutter beim Abschied und starteten erschöpft unsere Fahrt nach Hause.

Weihnachtsbesuch

Es war der Mittag eines typischen Heiligabends. Von Schnee keine Rede, dafür aber erreichte das Thermometer Temperaturen deutlich über 10°C. Ab und zu kam die Sonne heraus und trug auch nicht gerade dazu bei, dass bei uns weihnachtliche Gefühle aufkommen konnten. Wir hatten die Vorbereitungen für das nahende Weihnachtsfest abgeschlossen. Alle Geschenke waren verpackt und der selbst geschlagene Baum geschmückt. Nun waren wir, meine Frau, unsere dreijährige Tochter und ich mit dem Auto auf dem Weg zum Bahnhof, denn dieses Weihnachtsfest würde meine Schwiegermutter wieder bei uns verbringen.
 

Sie entsprach den gängigen Klischeevorstellungen einer Schwiegermutter, hatte sich von Anfang an versucht, in alle Dinge unserer Beziehung hinein zu hängen und ihren Stempel aufzudrücken. Insofern war meine Laune nicht unbedingt die Beste, besonders im Hinblick auf fast drei gemeinsame Tage.  Als wir auf den Parkplatz des Bahnhofes einbogen, stand sie bereits mit ihrem Koffer auf dem angrenzenden Gehweg.  Nach der Begrüßung wurde das Gepäck verstaut und unser Gast stieg in den Fond des Wagens.  Wir bogen gerade in die Hauptstraße ein, als wir von hinten eine Stimme hörten: "Mir ist etwas Schlimmes passiert, aber das erzähle ich euch später."
 

Warum später, fragte ich mich. Sollte ein Spannungsbogen aufgebaut werden wie in einem Krimi, wo in den letzten Minuten dann die Lösung offenbart wird? Oder sollten wir die Gelegenheit bekommen, mit bekundetem Interesse nochmals nachzufragen? "Ja nun sag' doch schon, was passiert ist", bohrte meine Frau.
 

"Ich habe vorgestern die Birke im Garten stutzen lassen, dabei ist mir ein Ast auf den Kopf gefallen und hat mich oberhalb des Auges erwischt", berichtete die Schwiegermutter mit weinerlicher Stimme. Bei Blick in den Rückspiegel fiel die zuvor nicht bemerkte kleine Schürfwunde oberhalb des linken Auges in der Leidensmiene ihres Gesichtes auf. Weshalb muss man zwei Tage vor Weihnachten aus einer Birke Äste und Spitze heraussägen lassen, schoss es mir durch den Kopf.

"Wie ist das denn passiert?" fragte meine bessere Hälfte nach. "Weil die Birke immer dichter wird und inzwischen über das Dach hinaus gewachsen ist, habe ich jemanden kommen lassen, der den Baum auslichtet und zurückschneidet. Dabei hat sich ein abgesägter Ast im Geäst des Baumes verfangen. Als ich den Ast von unten herunterziehen wollte, hat er sich gelöst und ist mir auf den Kopf gefallen." Betretenes Schweigen. Die Birke hatte meine Frau vor Jahren als kleinen Setzling mitgebracht und gepflanzt. Nun hing ihr Herz an dieser Birke. Der Baum schlug zurück, dachte ich.
 

Nachdem wir unsere Wohnung erreicht hatten, bereiteten wir den Nachmittagstee mit Weihnachtsgebäck vor. Die Hälfte der Sitzgarnitur wurde dabei von der leidenden Schwiegermutter eingenommen, die wegen des Unfalls den Tee liegend zu sich nehmen musste und über leichte Kopfschmerzen klagte. Während des Nachmittags kam dann eine Freundin vorbei, um uns ein gutes Weihnachtsfest zu wünschen und Geschenke unter unseren festlich geschmückten Weihnachtsbaum zu legen. Natürlich war die vor dem Weihnachtsbaum auf dem Sofa liegende Schwiegermutter ein ungewöhnliches Bild und auf die Nachfrage unserer Besucherin begann die Schwiegermutter sofort in epischer Breite und mit einer gewissen Dramatik ihre Geschichte zu erzählen. "...und dann knallte dieser Ast herunter und traf mich genau am Kopf." war zu vernehmen, als ich unsere Geschenke für die Freundin holte. Diese drückte nach dem kompletten Unfallbericht ihr Mitleid aus, wünschte uns augenzwinkernd ein schönes Fest und machte sich wieder auf den Weg.
 

Bei allem stand unsere Tochter mit gebührendem Abstand vor dem Sofa und sah sich das ungewohnte Schauspiel an - inzwischen kühlte sich die Schwiegermutter ihre lädierte Stirn mit einem feuchten Waschlappen, den meine Frau ihr bringen musste. "Omi Aua Weh" erklärte die Schwiegermutter unserer Tochter, um ihr in deren Worten den Ernst der Lage bewusst zu machen.
 

Über den Nachmittag erhielten wir einige Anrufe. Freunde wie Familie riefen an, um einen Weihnachtsgruß los zu werden. Sofern die Anrufer meiner Schwiegermutter bekannt waren, bat sie darum auch das Telefon gereicht zu bekommen. Nach einem kurzen Austausch der Weihnachtsgrüße folgte dann jedesmal die Unfallgeschichte, die sich von Fassung zu Fassung immer dramatischer zugetragen hatte. In der zuletzt gehörten schoss der armdicke Ast wie eine Rakete auf meine Schwiegermutter zu, es tat einen Schlag.....
 

So langsam dämmerte es und der Besuch im Familiengottesdienst für Familien mit Kindern stand an. Für uns immer ein Punkt der Ruhe, Besinnung, aber auch der Vorfreude auf die danach folgende Bescherung. "Ich glaube, ich muss mich ins Bett legen", sagte die Schwiegermutter und schleppte sich stöhnend ins Ehebett meiner Frau. Bei dem Zustand konnten wir sie natürlich nicht in die Kirche mitnehmen. "Ich bleibe lieber hier liegen", wimmerte unser Weihnachtsbesuch mit gedrückter Stimme. "Gönn' Dir ein bißchen Ruhe", erwiderte meine Frau. Nach der überaus schönen Andacht zum Heiligabend, der unsere Tochter mit großen Augen folgte, gingen wir in der Dunkelheit durch unseren kleinen Ort. Überall in den Fenstern waren die mit Kerzen geschmückten Weihnachtsbäume zu sehen. Nun sollte daheim die Bescherung erfolgen, zu der wir die Patentante unserer Tochter eingeladen hatten. Als wir zu Hause eintrafen, richtete die Schwiegermutter uns diverse Grüße von verschiedenen Anhörigen der Familie aus, die sie während unserer Abwesenheit angerufen hatte.
 

Kurz nach unserer Ankunft klingelte es. Die Patentante kam. Nach einer Begrüßung entzündeten wir die Kerzen am Baum und begannen mit der Bescherung. Die Schwiegermutter lag immer noch wegen des schlechten Gesamtzustands im Ehebett meiner Frau. Während unsere Tochter mit großen Augen die Kerzen am Baum betrachtete und wir gemeinsam das erste Geschenk auspackten, hörten wir einen erschöpften Ruf aus dem Nebenzimmer. Die beiden Frauen verließen das Wohnzimmer und ich packte mit unserer Tochter alleine weitere Geschenke aus. Nachdem nach einigen Minuten niemand zurückkam, löschte ich die Kerzen am Baum und ging mit meiner Tochter ins Schlafzimmer. Am Bett der leidenden Schwiegermutter saßen meine Frau mit der Patentante und bekamen gerade erklärt, dass der Ast rund ums Auge ein Brillenhämatom hinterlassen habe. Die Kopfschmerzen hätten zugenommen und inzwischen wäre eine Gehirnerschütterung kaum noch von der Hand zu weisen. Die Schwiegermutter mutmaßte, dass es vielleicht etwas noch schlimmeres sein könnte. Dies wiederum beunruhigte meine Frau, die dann ihrer Mutter die verhängnisvolle Frage stellte, ob sie nicht lieber zum Notarzt möchte. Die Frage wurde sogleich bejaht und dann begab sich meine bessere Hälfte an das Telefon, um die diensthabende Klinik zu ermitteln.

 

"Vielleicht können die in der Klinik einen Kernspin machen, um ein Blutgerinnsel im Hirn auszuschließen", sagte die Schwiegermutter, als sie den Mantel anzog. Und schon stieg sie zusammen mit meiner Frau in den Wagen und beide fuhren los. Ich blieb mit unserer Tochter und dessen Patentante zurück. Wir begaben uns wieder ins weihnachtlich geschmückte Wohnzimmer, denn es war ja schließlich Heiligabend.
 

Nach etwa zwei Stunden, es ging auf 22.00 Uhr zu, kamen beide aus der Klinik zurück. Die Patentante unserer Tochter hatte uns inzwischen verlassen. "Es kann möglicherweise eine leichte Gehirnerschütterung sein, sie haben mir ein Schmerzmittel mitgegeben", begrüßte mich die Schwiegermutter. Ich hatte im Stillen gehofft, dass sie sie im Krankenhaus zur Beobachtung behalten. "Ich soll jede Anstrengung vermeiden", wurde noch an die Ausführung angefügt. "Ich weiß gar nicht, ob ich dann übermorgen nach Frankfurt weiterreisen kann. Die Erschütterungen der Bahn sind sicherlich nicht gut für mich." In mir zog ein Horrorszenario auf: Eine jammernde, leidende Schwiegermutter, die über Wochen auf dem Sofa im Wohnzimmer nächtigt. Sodann inszenierte die Schwiegermutter die Einnahme des leichten Schmerzmittels, es sollte auch jeder mitbekommen, wie schlecht es ihr ging.
 

Während wir stillschweigend eine Kleinigkeit aßen, klingelte erneut das Telefon. Nun war ein entfernter Verwandter am Hörer, seines Zeichens Psychologe in einem Krankenhaus. Die Schwiegermutter erzählte wieder ihre Geschichte. "...und dann krachte mir der Baum auf den Kopf. Nun habe ich ein Brillenhämatom und die Ärzte im Krankenhaus sagten, ich solle mich schonen. Meinst Du, ich bin reisefähig und sollte übermorgen wirklich nach Frankfurt weiterreisen?" Es folgte eine längere Pause, dann beendete sie das Telefonat. "Bernhard meint, ich könne nicht weiterfahren", klärte sie uns auf. Ich dachte sofort, was das doch für ein begnadeter Krankenhauspsychologe sei, der zu Telefonferndiagnosen in der Lage ist. "Wir warten erst mal ab", erwiderte ich "und gehen jetzt ins Bett."

Am folgenden Morgen hatte sich der Zustand leicht verbessert, so dass die Schwiegermutter tagsüber nicht mehr im Ehebett meiner Frau, sondern nur noch liegend auf dem Sofa verbringen mußte. Ein schönes Arrangement mit Weihnachtsbaum. Dafür wurde meine liebe Frau des Öfteren in Anspruch genommen. "Ach Kind, kannst du mir bitte einen Orangensaft bringen?" "Schatz, bring' mir doch bitte ein Kissen für den Rücken." "Kind, kannst Du bitte die Jalousie herunterlassen, das Licht ist so grell." Glücklicherweise mussten wir die Schwiegermutter nicht noch auf die Toilette tragen.
 

Das geplante und bereits angekündigte Mittagessen - Gänsebrust mit Rotkraut und Klößen - wurde von uns abgesetzt und durch ein leichteres Essen ersetzt. "In deinem Zustand ist solch ein Essen Gift, wir machen lieber etwas Bekömmlicheres", sagte ich mit fürsorglichem Ton der Schwiegermutter, nicht ohne ein wenig Schadenfreude im Hinterkopf. "Ja", sagte sie bedrückt, schluckte und schrieb den leckeren Gänsebraten ab.

Über die Planung der kommenden Tage wurde dann im Verlauf des Tages auch nochmals gesprochen. Die Schwiegermutter weigerte sich standhaft und unter Bemühung des Krankenhauspsychologen, am kommenden Tag mit dem Zug nach Frankfurt zu reisen. Ich sah unsere letzten Urlaubstage wie Sand durch eine Sanduhr rinnen. "Wir fahren Dich mit dem Auto hin", entschied ich kurzfristig.
 

Am darauffolgenden Tag wurde dann das Weihnachtslazarett wieder aufgelöst. Wie die Sanitäter einen schwer angeschlagenen Fußballspieler zur Auswechselbank geleiteten wir die Schwiegermutter gegen Mittag zum Auto, in dem sie den Beifahrersitz einnahm. Sie stellte die Lehne zurück und bettete das geschundene Haupt auf ein Kissen, welches sie zwischen Fenster und Kopfstütze klemmte. Die Fahrt bekam den Charakter eines Liegendtransportes. Dazu spielte das Autoradio im Weihnachtsprogramm treffend "Es kommt ein Schiff geladen". In Frankfurt angekommen war die größte Hürde, sie noch in den vierten Stock der Verwandten zu bekommen, denn es gab keinen Fahrstuhl. Mit ein wenig Geduld, gutem Zureden und dem Ausblick auf noch ein fast zwei Festtage mit knusprig gebratener Gänsebrust konnte auch dieser Schritt bewältigt werden. Zur Begrüßung gab es eine Tasse Tee. Nun hörten wir zu letzten Mal die Geschichte von der Birke, die unbedingt zwei Tage vor Weihnachten beschnitten werden musste. "Jetzt müssen wir aber wirklich", sagte ich nach einer zweiten Tasse Tee und wir verabschiedeten uns. Befreit stiegen wir ins Auto und machten uns auf die Rückreise. "Nun ist für uns Weihnachten" sagte ich. Der Wagen fuhr auf der Autobahn in die tief stehende Wintersonne.

Herzlich willkommen

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© Ulrich Kaiser